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  • Johanna Tüntsch

UNSER ALLER SCHULD




Ob Containern legalisiert werden soll, wird aktuell politisch diskutiert. Dabei entsteht der größte Anteil der Lebensmittelverschwendung nicht etwa im Handel, sondern in den privaten Haushalten.

Ein Abend bei Freunden. Eines der eingeladenen Paare hat die kleine Tochter dabei, sie hat Hunger und soll früher Essen bekommen als die Partygesellschaft. Die Gastgeberin serviert ihr einen Teller Nudeln. Die Kleine pickt einige Male darin, doch dann rutscht sie vom Schoß ihrer Mutter und entscheidet, dass es spannender ist, das Spielzimmer der anderen Kinder zu erkunden. Die Nudeln werden kalt, die Gastgeberin wirft sie weg.



DIE NORMALITÄT DER VERSCHWENDUNG


Während die Kinder im oberen Stockwerk beschäftigt sind, findet das Essen statt: ein Braten, Kartoffelgratin, Ofengemüse. Es duftet köstlich, jeder nimmt sich eine große Portion. Als alle satt die Segel streichen, bleibt einiges auf den Tellern zurück. Auch das wandert in den Müll. Nachtisch gibt es trotzdem – „dafür ist immer Platz“, scherzt jemand. Deutlich später kommt übermüdet die Dreijährige zurück zu ihren Eltern. Sie fordert ihre Nudeln. Weil die nicht mehr zur Verfügung stehen, werden neue gekocht, von denen sie wiederum nur einen Teil isst. Zum dritten Mal an diesem Abend geht der Mülleimer auf. Niemand verzieht eine Miene; die Mehrheit der Anwesenden scheint das normal zu finden.

Wie anders ist die Lebensrealität des fünfjährigen Kito, von dem im Newsletter der Hilfsorganisation Kids Kenia berichtet wird. In einem Slum lebte das Waisenkind auf der Straße, bis es einen Platz im Kinderheim fand. Eine Helferin der Einrichtung berichtet, dass er nach wenigen Tagen gefragt habe, „ob wir den weißen Eimer mit den Essensresten seinen Freunden bringen können, denn die haben nichts zu essen und wir hätten doch noch was über. In diesem Eimer sind unsere Küchenabfälle für unsere Schweine…“



HUNGER GIBT ES NICHT NUR IN ENTWICKLUNGSLÄNDERN


Aber nicht nur in Kenia, auch in Deutschland ist für manche Menschen das Essen knapp. Rund 1,65 Millionen Menschen nehmen die Unterstützung der Tafel in Anspruch. Durch den Krieg und die aktuelle Inflation ist die Tendenz steigend. Die Heinrich-Böll-Stiftung ging schon 2021 davon aus, dass sechs Millionen Menschen, darunter zwei Millionen Kinder, zumindest von Ernährungsarmut bedroht sein könnten.

So fällt aktuell ein politischer Scheinwerfer auf jene, von denen zumindest in Deutschland die meisten ihre Lebensmittel beziehen: die Supermärkte. „Containern“ ist das Wort der Stunde. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und sein Justizkollege Heiko Buschmann haben sich dafür ausgesprochen, dass das Containern nicht mehr unter Strafe stehen soll. Aktuell gilt nämlich: Wer sich an Supermarkt-Abfällen bedient, riskiert eine Anzeige wegen Diebstahl und Hausfriedensbruch.



WÄHLERISCHE VERBRAUCHER TRAGEN EINE MITSCHULD


Das ist empörend, wenn man Lebensmittel vor Augen hat, die in weiten Teilen noch genießbar sind – und andererseits an den Hunger in der Welt, ja sogar in der Nachbarschaft denkt. Trotzdem ist die Simplifizierung von „guten Rettern“ und „bösem Handel“ zu kurz gedacht. Nicht nur, weil Supermärkte die nachvollziehbare Sorge haben können: Ist das Containern erst einmal legalisiert, werden künftig noch viel mehr Menschen am Hintereingang des Marktes kostenlos den Einkaufszettel abarbeiten, statt durch die Vordertür zu spazieren und Geld im Laden zu lassen. Nein, übersehen wird in diesem Szenario ein ganz anderer Aspekt: Die Lebensmittelhändler werfen Himbeerschalen, in denen sie stichprobenartig einzelne verschimmelte Beeren gefunden haben, nicht ohne Grund weg.

Jeder, der sich schon einmal im Laden darüber beschwert hat, dass in seinem Netz Mandarinen, seinem Beutel mit Äpfeln oder seiner Schachtel mit Tomaten auch eine schimmelige Frucht war, trägt Mitschuld an der gnadenlosen Auslese, die die Händler betreiben. Denn der Kunde, der einen neuen Beutel Äpfel fordert, kostet den Marktleiter nicht nur den Preis einiger Äpfel. Er kostet auch Reputation. Was denken schließlich die anderen Kunden, die an der Kasse warten und beobachten, dass da gerade über makelbehaftete Produkte verhandelt wird? Werden sie dem Angebot des Ladens künftig misstrauen? Zumindest ist das denkbar und ein Risiko, das Kaufleute meiden wollen.

Kaum jemand ist in unserer Gesellschaft des perfekten Scheins bereit, über Schönheitsfehler hinwegzusehen. Kein Wunder also, wenn Avocados, sei auch ihr wasserintensiver Anbau eine ökologische Katastrophe, gelegentlich palettenweise aussortiert werden, weil ihre Schale einen unappetitlichen Farbton hat. Hier dürfen sich alle Verbraucher, die kritisch über die vermeintliche Lebensmittelverschwendung von Supermärkten denken, an die eigene Nase fassen. Wer sich auch mal für aus der Form geratene Backwaren, krumme Gurken oder Verpackungen mit schief sitzendem Etikett entscheidet, trägt aktiv dazu bei, dass weniger genießbare Lebensmittel aussortiert werden.



SUPERMÄRKTE UNTERLIEGEN RECHTLICHEN HÜRDEN


Rewe-Sprecherin Kristina Schütz äußert in einem Bericht des Express noch einen anderen Aspekt: Verdorbene Ware könne sowohl aus moralischen wie auch aus juristischen Gründen nicht abgegeben werden. Diesen Punkt sehen auch die Tafeln und fordern, dass die hohen Hürden der Produkthaftung reduziert werden. Waren mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum dürfen die Tafeln zum Beispiel gar nicht herausgeben – und das, obwohl es längst eine Binsenweisheit ist, dass nur sehr wenige, frische Lebensmittel kurz nach diesem Stichtag verderben, während andere noch Jahre darüber hinaus genießbar sein können. Hier ist die Politik gefragt, überholte Gesetze anzupassen und eine simple Umformulierung vorzunehmen: „best before end“ anstelle von „mindestens haltbar bis“ würde klar machen, dass Lebensmittel auch nach dem jeweiligen Stichtag noch genießbar sein können.



DER GROßTEIL DES SCHADENS ENTSTEHT IN PRIVATHAUSHALTEN


Das würde auch dabei helfen, dem Aussortieren in privaten Haushalten ein Ende zu setzen. Denn auch hier landen abgelaufene Produkte oft ungeöffnet in der Tonne. Wer glaubt, dass der private Küchenmüll einen geringeren Einfluss hat als jener der großen Märkte, der irrt sich gewaltig. Die Märkte zeichnen nur für vier Prozent dieser Abfälle verantwortlich. Über die Hälfte der weggeworfenen Lebensmittel, in Zahlen: 52 Prozent, gehen auf das Konto der privaten Haushalte. Pro Kopf sind es etwa 75 Kilogramm an Essen, die im Jahr weggeworfen werden. Das geht aus einem Report des Braunschweiger Thünen-Institutes hervor.

Und da wären wir wieder bei den zwei Tellern Nudeln, dem Rest an Fleisch, Gemüse und Kartoffeln, die an jenem Abend im Müll gelandet sind. Mehr Wertschätzung für Lebensmittel gehört zu den Punkten, die die Tafeln in Deutschland fordern. Mit gutem Grund. Denn man kann auch kleinere Portionen auf die Teller geben: Dann sprechen keinerlei Hygienebedenken dagegen, alles, was in den Töpfen geblieben ist, am nächsten Tag aufgewärmt oder als Auflauf noch einmal auf den Tisch zu bringen. Verabschieden wir uns endlich von der Unsitte, Essensreste in den Müll zu werfen – denn dort gehören sie einfach absolut nicht hin.





QUELLEN


Newsletter Kids Kenia e.V. vom 28. November 2022


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