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  • Johanna Tüntsch

DAS VERKANNTE PARADIES

WAS WIR DURCH DIE CORONA-KRISE ÜBER UNSERE HALTUNG ZU LEBENSMITTELN LERNEN KÖNNEN

Ein Frühlingsspaziergang im Kölner Westen. Der Park ist gut bevölkert, die Sonne strahlt – und doch ist etwas anders. Auf einen Moment der Irritation folgt die Erkenntnis: Es ist die Ruhe. Über einer Wiese, auf der sich so viele Menschen aufhalten, hängt für gewöhnlich ein ständiger Lärmpegel von Lachen, Rufen und Kindergeschrei. Jetzt aber liegt sie wie eine unsichtbare Dunstglocke über der Stadt: die Corona-Stille. Jeder scheint den Kopf eingezogen zu haben, wie um ein drohendes Donnerwetter abzuwehren. Selbst dort, wo auf den ersten Blick Normalität herrscht, sucht man sie beim zweiten Hinsehen vergeblich. Wenn auf einem schmalen Bürgersteig zwei Fußgänger aneinander vorbei müssen, wenden sie die Köpfe voneinander ab und schauen demonstrativ in entgegengesetzter Richtung zu Boden.

Das schlägt aufs Gemüt, und zwar nachhaltig. Beim Kochen in meiner Küche ist die Welt eigentlich noch so, wie sie immer war – und auch wieder nicht. Früher bin ich während des Gemüseschneidens in Gedanken anstehende Termine und Verabredungen durchgegangen. Nun sind sie alle ausgefallen. Und plötzlich wird mir, gerade beim Kochen, bewusst, wie sehr ich meine Freunde vermisse. Wie schön wäre es, wieder einmal einige von ihnen zu mir zum Essen einzuladen! Auch meine frühere Kochgruppe kommt mir in den Sinn. „Du schneidest das Gemüse für den Salat, ich bereite das Kürbisrisotto vor“, hieß es zum Beispiel: Die Aufgaben waren schnell verteilt, und während wir auf engstem Raum zusammensaßen, um Kohlrabi, Hokkaido und Champignons mundgerecht zuzubereiten, plauderten wir über unsere persönlichen Tops und Flops der zurückliegenden Wochen. Kochen verbindet, und essen erst recht. In fast allen Kulturen der Welt gilt die gemeinsame Mahlzeit als ein Ritual, das Zusammengehörigkeit oder, wenn nötig, auch Versöhnung ausdrückt. Und nun?

Immerhin bleibt uns in den Lebensmittelgeschäften eine Vision davon, dass es bald wieder so sein könnte. Beim Blick auf die frischen Waren und bunten Packungen werden Erinnerungen wach: „Das haben wir im letzten Sommer gekocht!“ Oder: „So etwas gab es bei den Freunden, das wollte ich doch längst mal zu Hause ausprobieren!“ Der kleine Supermarkt um die Ecke ist auf einmal ein Paradies voller Möglichkeiten. Gleichzeitig ist er zum Schauplatz des gesellschaftlichen Geschehens geworden. Wenn man Glück hat, trifft man hier Nachbarn oder Bekannte und erfährt ein paar Neuigkeiten. Was für ein Geschenk, in Zeiten, in denen persönliche Begegnungen eine kostbare Seltenheit sind!

„Das Einkaufen ist jetzt mein Abenteuer“, sagt eine Freundin zu mir. Ich verstehe gut, was sie meint – und stelle fest, dass das eigentlich schon immer so war, ohne dass wir es jemals wirklich wahrgenommen hätten. „Ich muss nur noch schnell zum Supermarkt.“ Wie oft haben wir das vollkommen beiläufig gesagt? Seien wir mal ehrlich: In gewisser Hinsicht haben die meisten von uns zum Supermarkt ein Verhältnis wie Teenager zu ihren Eltern. Sie sollen bei Bedarf da sein, immer funktionieren, auf Abruf schnelle Lösungen anbieten und ansonsten nicht stören. Supermärkte sind die lästige Pflicht, das Flanieren zwischen Boutiquen, Parfümerien und Schuhgeschäften hingegen die Kür. Folgerichtig schaut man im Supermarkt auf die Preise und spart in einer Größenordnung, die angesichts der Trophäen, die vom samstäglichen Shoppingbummel mitgebracht werden, die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte.

Das Preisniveau von Lebensmitteln ist in Deutschland auf ein Niveau gefallen, das ihrer Bedeutung nicht im geringsten gerecht wird. Ich wünsche mir, dass wir wenigstens diese Erkenntnis aus der Corona-Krise mitnehmen: Lebensmittelgeschäfte gehören zu den wichtigsten Orten des Landes. Als Verbraucher sollten wir das anerkennen und höhere Preise gerne akzeptieren, damit Landwirte, Händler und alle, die dazwischen Teil der Lieferkette sind, von ihrer Arbeit gut und sicher leben können. Bislang ist das nämlich nicht der Fall.

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